10 Hypothesen von Timo Schreiber
Timo Springer ist Co-Founder und Managing Partner von DECAID (ausgesprochen wie „Decade“), einem Technologieberatungsunternehmen, das Unternehmen beim Aufbau von Kompetenzen im Bereich Generative AI untersützt. In der Ankündigung seines Vortrags fand ich eine Reihe von Schlagworten, die wir auch im Führungskreis von LIVING CONCEPT aktuell diskutieren, u. a. „Transformation der Wertschöpfung“, „Demokratisierung der Contentproduktion“ oder „Produktisierung von Dienstleistungen“. Deswegen war ich sehr gespannt auf den Vortrag beim Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW).
Als Einstieg wählte Timo die Frage, womit sich die derzeitige Transformation der Kreativwirtschaft vergleichen lasse. Seine Antwort: mit der industriellen Revolution. Denn der Wandel werde tiefgreifend und umfassend sein. Zu dieser Transformation stellte er 10 Hypothesen auf, um eine Diskussion über die Zukunft der Kreativwirtschaft anzuregen.
1. Transformation der Wertschöpfung
Für die Zukunft sieht er Agenturen in einer stark veränderten Erlöslandschaft, weg von der automatisierbaren Content-Produktion, hin zu Beratung, Konzeptentwicklung und kreativer Strategie. Denn bislang verdienen Agenturen ihr Geld eher selten mit Strategieentwicklung und Konzeption, sondern vor allem mit der Produktion. Content-Produktion werde aber immer günstiger, die Tools immer zugänglicher, was den Wettbewerb und den „Inhouse-Shift“, die Verlagerung von Aufgaben von Aufgaben in Unternehmen, verschärfe.
Um die Dimensionen zu verdeutlichen, führte er ein paar aktuelle Beispiele an:
- Das Video „Golden Record“ des Künstlers Paul Trillo, das er nach eigenen Angaben mit Hilfe von OpenAI’s Sora in zwei bis drei Tagen erstellt hat, wofür er früher Monate gebraucht hätte.
- Midjourney kann mit „Style Reference“ aus Styleguides markenkonforme Visuals in sehr guter Qualität ableiten.
- ChatGPT kann durch markenspezifische GPTs Social Media Captions und andere Inhalte in markentypischer Sprache formulieren – einfach durch Eingabe eines Bildes.
- Vodafone hat eine mit ElevenLabs produzierte Radiokampagne gelauncht – und explizit darauf hingewiesen, dass diese inhouse produziert wird, ohne die sonst mit Vodafone-Kampagnen betraute Lead-Agentur Jung von Matt.
- Max Lederer, CIO von Jung von Matt, gab seinerseits zu, dass seine Agentur für Voice Over nichts mehr zahle, weil ElevenLabs hier gute internationale Sprachadaptionen liefere. Dass dadurch die Tonstudios und Sprecher:innen das Nachsehen haben, ist ihm durchaus bewusst.
- Bei ElevenLabs findet man nun auch vermehrt autorisierte Stimmen von Prominenten, wie die der Kim Possible-Schauspielerin Christy Carlson Romano. Vermutlich werden wir in Zukunft sehr viele Spots mit sehr wenigen „Promi-Stimmen“ zu hören bekommen. Hier zeigt sich ein weiterer Effekt, der auch vom Musikmarkt bekannt ist: Die oberen zwei bis drei Prozent machen riesige Umsätze, während der Großteil mit fast nichts auskommen muss.
In dieser Situation auf „Empathie“ oder „mehr Kommunikation“ zwischen Kunden und Agenturen zu hoffen, erscheint angesichts der sich verschärfenden wirtschaftlichen Situation naiv. Timo nannte in diesem Zusammenhang das Beispiel eines Kunden, der plötzlich von seiner Agentur 7.500 Assets haben wollte – um damit seine eigene KI zu trainieren und selbst Assets erstellen zu können.
Sein Fazit:
Der Umsatz in der Produktion fällt weg und muss an anderer Stelle gemacht werden – in der Strategieentwicklung und Konzeption. Denn KI wird mit bereits bestehenden Daten trainiert, was die kreative Bandbreite des Outputs reduziert. Um wirklich orginelle Ideen zu kreieren und differenzierende Kommunikation zu gestalten, braucht es weiterhin menschliche Kreativität.
2. Demokratisierung der Content-Produktion
Qualitativ hochwertige Inhalte können zunehmend auch von kleineren Teams oder Einzelpersonen erstellt werden, was den Wettbewerb verschärft. Timo nannte hier das Beispiel HeyGen. Es liefert (noch) nicht 100 Prozent der „klassischen“ Qualität – diese aber zu einem Bruchteil der Kosten. Tools wie Playground werden schon jetzt mit Aussagen wie „Create and Edit Images like a pro without being one“ beworben.
3. Neugestaltung von Rollen und Kompetenzen
Innerhalb der Agenturen werden sich die Rollen und die erforderlichen Kompetenzen stark verändern. Fähigkeiten zur Steuerung und Überwachung von KI-Systemen sowie Kompetenzen in der kreativen Kuratierung und Strategieentwicklung werden gegenüber produktionsorientierten Rollen in den Vordergrund rücken. Dazu zeigte Timo eine interessante Grafik, die aufzeigte, in welchen Bereichen sich KI entwickelt – und wo sie heute schon besser ist als der Mensch – zum Beispiel bei Bilderkennung, Text- und Sprachverständnis. Wobei sich neuere Fähigkeiten wie Codegenerierung schneller entwickeln als frühe Fähigkeiten wie Handschrift- oder Spracherkennung, die sich seit Ende der 90er Jahre über viele Jahre langsam entwickelt haben.
„Der Gedanke, dass auch eine Maschine kreativ sein kann, geht an den Kern der eigenen Identität“, zitierte Timo Alex Jacobi, Chief Empowerment Officer von With love and data. Und doch zeigen Beispiele wie die „Fast Content Machine“ der Agentur Spreefreunde, dass AI Texter:innen die Arbeit nicht nur erleichtert, sondern komplett abnimmt. Laut Spreefreunde-CEO Tim Krannich ist menschliche Intervention nur noch nötig, um das Tool richtig einzurichten und zu bedienen.
4. Produktisierung von Dienstleistungen
Agenturen entwickeln sich zu Anbietern von Dienstleistungen in Form von standardisierten und skalierbaren Produkten oder Softwarelösungen. Dies ermöglicht neue Geschäftsmodelle. Der Vergleich mit der Industriellen Revolution liegt bei dieser Hypothese auf der Hand. Als Bespiel nannte Timo Mutabor AI, die „jede Art von Bildmaterial im Markenstil“ produzieren kann. Dabei arbeitet Mutabor eng mit Markenexperten, Illustratoren, 3D-Künstlern und Fotografen zusammen.
Auch die Agenturgruppe Serviceplan gründet eigene KI-Labs, um dort schneller als im klassischen Kerngeschäft auf veränderte Möglichkeiten und Bedingungen reagieren zu können. Als Antwort auf Sora wurde mit Tektite gerade die erste Agentur für KI-Werbefilmproduktion in Deutschland gegründet.
5. Hyperpersonalisierung von Inhalten
Die Erstellung von on-demand und hochpersonalisiertem Content wird Standard Beispiele wie der eingangs gezeigte, eigens für dieses Webinar mit Suno generierte Rapsong, personalisierte Videos mit HeyGen oder der individuelle Newsfeed als Podcast von Perplexity zeigen nur einen Bruchteil der neuen Möglichkeiten. Spannend waren auch die GPTs von Timo, die individuelle Kochrezepte generieren, die genau auf seine Physis, Vorlieben und Ziele zugeschnitten sind. In Unternehmen können KI-gestützte Kundenpersonas helfen, zielgerichtete Marketinginhalte zu optimieren, die perfekt auf die Vorlieben des Einzelnen zugeschnitten sind.
6. Wichtigkeit des Markenaufbaus
Dadurch werden starke, vertrauenswürdige Marken noch wichtiger, da Konsumenten in einer von Deepfakes und KI-generierten Inhalten geprägten Landschaft nach Glaubwürdigkeit und Authenzität suchen. Wie schnell wir uns auf eine „Don’t-trust-anything-Society“ zubewegen, zeigte er anhand der vermeintlichem Anrufe von Joe Biden, bei der Wahl in New Hampshire nicht zur Wahl zu gehen. Entsprechend zeigt das Edelman Trust Barometer, dass 7 von 10 Konsumenten sagen, dass Vertrauen in Marken wichtiger geworden ist. Starke Marken schaffen echte emotionale Bindungen – basierend auf geteilten Werten, gemeinsamen Erfahrungen und dem unersetzlichen menschlichen Touch. In einer Welt voller KI suchen die Menschen mehr denn je nach dieser Authentizität und Menschlichkeit. „Authentic“ ist laut Merriam-Webster das Wort des Jahres 2023. Anschließend zeigt er das Beispiel einer Stable-Diffusion-XL-KI, die mit dem Barbie-Film trainiert wurde und in der Lage ist, die Bilder in genau der Ästhetik des Films zu erzeugen.
7. Bedeutungszunahme von Geschmack und Ästhetik
Ein ausgeprägter Sinn für Ästhetik und Design wird zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Immer mehr und bessere Durchschnittlichkeit treibt den Anspruch an außergewöhnliche Inhalte – und einen eignen Stil. Je zugänglicher generative KI für die Content-Erstellung wird, desto wertvoller wird Kommunikation, die sich von der Masse abhebt und wirklich relevant ist.
8. Einführung flexibler Vergütungsmodelle
An die Stelle traditioneller Stunden- oder Tagessätze treten flexible, wertbasierte Vergütungsmodelle, die den tatsächlichen Mehrwert kreativer und strategischer Leistungen besser abbilden. Bereis 2022 – vor dem Start von ChatGPT – war für Timo klar: „In Zeiten von Produktisierung, Standardisierung und Automatisierung durch generative KI die Abrechnung nach Zeit tot.“ Auch die CEO von KNSK, Kim Alexandra Notz, stellt sich die Frage „Wenn ich derzeit eine große Content-Agentur leiten würde, die sich auf die Produktion großer Mengen simpler Inhalte konzentriert, würde mir aktuell die Fantasie fehlen, womit diese Agentur Geld verdienen kann.“ Aus diesem Grund hat sich KNSK vor kurzem auch vom „Zeit-gegen-Geld“-Ansatz verabschiedet und ein neues Vergütungsmodell etabliert. Alternativen zur zeitbasierten Abrechnungen sind zum Beispiel performancebasierte Vergütung, fixe Produkt- oder Servicepreise, Lizenzgebühren oder Abonnementmodelle.
9. Soziale und gesellschaftliche Herausforderungen
Die Transformation durch KI führt zu sozialen Spannungen, einschließlich Arbeitsplatzverlusten und einer Neubewertung kreativer Arbeit. Der Gründer von Dreamworks, Jeffrey Katzenberg, schätzt, dass KI innerhalb der nächsten drei Jahre 90 Prozent aller Animations-Jobs ersetzen wird. Der Schauspieler, Filmemacher und Studiobesitzer Tyler Perry hat eine Investition von 800 Millionen Dollar gestoppt, nachdem er OpenAI’s Sora gesehen hatte.
Auch in der Statistik zeigen sich bereits Veränderungen. So sank die Zahl der Freelancer-Jobs auf Online-Plattformen ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung von ChatGPT um drei Prozent. Und die Durchschnittsverdienste sanken sogar um zehn Prozent. Klarna wickelt inzwischen zwei Drittel der Serviceanfragen durch eine KI ab. Und ersetzt damit 700 Vollzeit-Servicemitarbeitende. Und die durchschnittliche Bearbeitungszeit einer Anfrage sank von 11 auf unter 2 Minuten.
Weitere Nachrichten der letzten Wochen: Der Telekommunikationsriese BT will bis 2030 55.000 Arbeitsplätze abbauen und durch KI ersetzen. Goldman Sachs schätzt, dass 300 Millionen Jobs durch KI verschwinden oder abgewertet werden.
Aber es regt sich auch Widerstand. Die Künstlerinnen Katy Perry, Billie Eilish und andere unterzeichnen einen offenen Brief „Against AI Music Technology“. Die New York Times verklagt OpenAI und Microsoft wegen Urheberrechtsverletzung. Tools wie Nightshade versprechen, Daten so zu „vergiften“, dass sie für das Training von KI unbrauchbar werden. Auch der Streik der Drehbuchautor:innen weckte weltweite Aufmerksamkeit.
10. Verschmelzung von Mensch und Maschine
Seine letzte Hypothese: KI wird nicht nur Werkzeug, sondern integraler Bestandteil von Kreativteams. Zum Beispiel durch die Entwicklung spezieller GPTs, die in Agenturen pro Kunde oder Marke eingesetzt werden können. Generative KI wird nahtlos in Workflow-Management-Systeme integriert, um Aufgaben automatisch zu erkennen, zu priorisieren und abzuarbeiten. KI-Agenten werden größere und komplexere Aufgaben selbständig oder mit minimaler menschlicher Aufsicht bearbeiten. Generative KI bietet proaktiv Vorschläge und Unterstützung auf der Grundlage des aktuellen Kontexts und früherer Interaktionen an. Generative KI passt sich den spezifischen Bedürfnissen und Vorlieben eines Teams an und wird zum unverzichtbaren Bestandteil. Dazu passt die These von Peter Kabel auf der Moonova: „Man nennt etwas nur solange KI, solange es nicht sonderlich gut funktioniert. Danach ist es einfach Software.“
Let’s /imagine the future
Timo beendete seinen Vortrag mit dem Aufruf „Let’s /imagine the future” (in bewusster Übernahme der Schreibweise eines Midjourney-Prompts). In der anschließenden Diskussion wurden einige Aspekte noch weiter vertieft. Insgesamt fanden die Hypothesen viel Anerkennung, auch wenn natürlich vieles nicht unbedingt Wunschszenarien sind. Aber sowohl als Mensch als auch als Unternehmen in der Kreativwirtschaft kann man nur auf Veränderungen reagieren, die erkennt. Dafür sind die Hypothesen und der nüchterne Blick „von außen“, den Timo als Technologieberater auf die Branche wirft, sehr wertvoll. Ein lohnender Einblick!
Auch bei LIVING CONCEPT machen wir uns Gedanken zur Transformation der Kreativwirtschaft durch KI, beispielsweise über Alternativen zur zeitbasierten Abrechnung. Dies jetzt noch einmal unter dem Blickwinkel „Was verändert sich durch KI?“ zu sehen, bestätigt uns. Und es zeigt die Notwendigkeit, sich noch intensiver damit zu beschäftigen.